Digitalisierung, Nachhaltigkeit und geopolitische Unsicherheiten setzen den Einzelhandel massiv unter Druck. Doch ein Aspekt bleibt konstant entscheidend: der menschliche Faktor. Henk Hofstede, Sector Banker Retail bei ABN AMRO, teilt seine Perspektive auf die Branche im Gespräch mit Loek Wermenbol, Retail Strategy Director bei First Impression. Die zentrale Frage:
„Was macht dich als Händler für den Konsumenten wirklich relevant?“
Eine Branche im Dauerauf und -ab
Seit der Insolvenz von V&D im Jahr 2015 beschreibt Henk die Branche als Achterbahn. „Insolvenzen, Übernahmen, neue Player – aber gleichzeitig entstehen auch klare Linien: Nachhaltigkeit, Digitalisierung und der Aufstieg der Experience Economy.“
Gleichzeitig steigen die Kosten in allen Bereichen: Personal, Logistik, Energie. „Die Herausforderung besteht darin, so differenzierend zu sein, dass du diese Kosten weitergeben kannst“, so Henk. „Wenn du dich das nicht traust, schrumpft deine Marge – und damit auch dein Innovationsspielraum.“
Ein weiterer Schlüsselbegriff: Omnichannel. Konsumenten erwarten heute eine nahtlose Markenerfahrung – kanalübergreifend. „Wenn jemand online bestellt und offline zurückgeben will, darf das nicht zu fragenden Blicken führen.“
Der Mensch als Erfolgsfaktor
Auch das Personal ist ein kritischer Faktor. Qualifizierte Fachkräfte zu finden und zu halten wird immer schwieriger – gerade bei der jungen Generation. „Einige Autohäuser gründen bereits ihre eigenen Akademien“, sagt Henk. „Der Handel muss kreativer werden, wenn es um Employer Branding geht.“
Warum? Weil Menschen das Einkaufserlebnis prägen. „Das Konsumverhalten verändert sich – keine Frage. Aber das Bedürfnis nach persönlichem Kontakt wächst“, so Henk. „Wenn ich in einen Weinladen gehe, möchte ich nicht irgendeine Flasche, sondern eine Empfehlung, die passt – individuell und überraschend.“
Dieser persönliche Moment, dieses ehrliche Gespräch – genau das macht im digitalen Zeitalter den Unterschied.
„Retail dreht sich um Menschen. Punkt.“
Erlebnis schlägt Sortiment
Gen Z und Millennials betreten Geschäfte nur, wenn es wirklich etwas zu erleben gibt. Eine schöne Regalstruktur reicht nicht mehr aus.
Eine gemeinsame Studie mit Q&A Retail aus dem Jahr 2024 zeigt: Über 50 % der jungen Konsumenten betreten einen Laden nur, wenn dort echte Erlebnisse warten.
„Du musst alle Sinne ansprechen – aber auch echte Wärme, ehrliche Beratung und Interesse zeigen“, so Henk. „Kannst du hyperphysischen Retail liefern – und hast du das Personal, das diesen Anspruch auch erfüllt?“
Innovation mit Mut und Verstand
Eine digitale Retail Experience kann ein echter Booster sein – wenn sie strategisch klug eingesetzt wird. „Man muss nicht gleich mit dem großen Wurf starten“, sagt Henk. „Klein anfangen. Testen. Lernen. Skalieren.“
Eine digitale Retail Experience kann ein echter Booster sein.
Dabei sind Daten und KI entscheidend. „Nur wer seine Kunden wirklich kennt, kann auch ihre Erwartungen übertreffen.“
Ein ABN AMRO-Report aus dem Jahr 2023 zeigt: 50 % der befragten Retailer arbeiten bereits mit KI – in unterschiedlichsten Formen. Die andere Hälfte hat keine Kapazitäten oder andere Prioritäten. „Aber die Entwicklung schreitet rasant voran“, so Henk. „Wer jetzt nicht einsteigt, fällt zurück.“
Sein Tipp: „Mit kleinen Piloten anfangen. Schnell lernen. Flexibel anpassen. So entsteht Wirkung.“
Die entscheidende Frage: warum du?
Am Ende bleibt eine einzige Frage, die wirklich zählt: Warum sollte sich ein Konsument für dich entscheiden?
„Ob online, offline, via Click & Collect oder Social Commerce – der Kanal ist zweitrangig. Es geht um Relevanz“, so Henk. „Was unterscheidet dich? Was bietest du, das andere nicht können?“
Wer hier keine klare Antwort hat, gerät unweigerlich in den Preiskampf. Und den gewinnst du fast nie.
Globale Spannungen, lokale Folgen
Auch geopolitische Entwicklungen beeinflussen das Kaufverhalten. Handelszölle der USA, aggressive Preispolitik aus China – das Vertrauen der Konsumenten sinkt. ABN AMRO beobachtet dies genau.
„In den Niederlanden wird seit acht Monaten mehr gespart – und entsprechend weniger konsumiert“, erklärt Henk. „Das macht Differenzierung noch entscheidender.“
Agilität ist Pflicht
Zum Schluss fasst Henk alles in einer klaren Botschaft zusammen: „Was macht dich als Händler relevant für den Kunden?“
Egal ob Preis-Leistungs-Verhältnis, Service, Nachhaltigkeit oder Erlebnis – ohne starke, differenzierende Positionierung wirst du unsichtbar.
„Wenn du als Händler tust, was du immer getan hast, bekommst du, was du immer bekommen hast – oder weniger.“
Sein Appell:
„Die Welt ist chaotisch. Sei flexibel. Plane nicht nur für Wachstum, sondern auch für schwierige Zeiten. Denk in Szenarien. Und stell dir immer wieder die eine Frage: Worin liegt dein Mehrwert für den Kunden?“